Das Themengebiet der Nutzerzentrierung gewinnt auch bei Fahrzeugherstellern täglich an Bedeutung, da die Jagd nach Wettbewerbsvorteilen härter wird und Nutzerzentrierung zugleich die Kundenbindung erhöht. Während vor einigen Jahren noch die schiere Anzahl an Funktionen entscheidend war, ist es nun entscheidend, in welchem Umfang diese Dienste für Endkunden tatsächlich benutzbar sind.
Wir, das P3 User Experience Team, widmen uns leidenschaftlich dem Themengebiet der Nutzerzentrierung. Unser Ziel ist es, Produkte, Services und Erfahrungen besser an die realen Bedürfnisse ihrer Nutzer anzupassen. Das bedeutet einerseits, die spezifischen Bedürfnisse zu analysieren und als Basis in die Entwicklung einfließen zu lassen. Andererseits überprüfen wir, inwieweit Endprodukte aber auch Entwicklungsstände diese Bedürfnisse erfüllen.
Bei unserer täglichen Arbeit gibt es immer wieder Situationen, die uns überraschen oder zum Schmunzeln bringen. Rund um die Themen UX Mindset, UX Strategy und UX Development machen wir besonders bei Live-Fahrzeug-Tests mit Probanden interessante Entdeckungen. Einige der besten dieser Erlebnisse und Schlussfolgerungen haben wir in sechs kurzen Geschichten zusammengestellt.
Proband überrascht alle mit nicht-nutzen des Infotainments
In einer unserer Beobachtungsstudien gaben wir Probanden die Aufgabe, Musik im Auto abspielen zu lassen. Einer der Studienteilnehmer stieg in das Testfahrzeug, zog sein Telefon aus der Hosentasche und stellte es in der Mittelkonsole ab, um letztlich Musik aus seinem Telefon abspielen zu lassen. Das Infotainmentsystem wurde gar nicht erst verbunden.
Es ist folglich nicht jedem sofort klar, welche Features und Funktionen (s)ein Fahrzeug besitzt. Nutzer sollten daher aktiv befähigt werden, gerade solche Funktionen, welche die Fahrerablenkung reduzieren wie zum Beispiel das Telefonieren über das Infotainmentsystem, zu nutzen.
Lektion #1 – Die Verknüpfung von Smartphones und anderen Geräten mit dem Infotainmentsystem soll einfach und selbsterklärend funktionieren. Der Nutzer muss im Zweifel allerdings erst einmal wissen, dass sein Fahrzeug etwa über die Möglichkeit verfügt, Smartphones per USB oder Bluetooth koppeln zu können.
Intuition einer Probandin sabotiert Test
Während eines Benchmarks zweier Fahrzeuge, bei dem wir Drehdrücksteller und Touchdisplay miteinander vergleichen wollten, erwischte uns eine Probandin kalt, indem sie die gewünschte Funktion intuitiv per Sprachbefehl auslöste und so unseren Test sabotierte.
Gerade wenn Autohersteller einzig auf ein Touchdisplay als haptisches Eingabegerät setzen, ist eine ausgereifte Sprachbedienung umso wichtiger, damit Fahrer in schwierigen Fahrsituationen weiterhin die Möglichkeit haben, das Infotainmentsystem zu bedienen.
Lektion #2 – Vielseitige Eingabemöglichkeiten sind heutzutage ein Muss für Infotainmentsysteme. Viele Hersteller implementieren neben alt bekannten Knöpfen und Drehdrückstellern außerdem berührungsempfindliche Bildschirme, Lenkradbedienung, Gesten- sowie Sprachsteuerung.
Kollege verschwindet im Kofferraum
Bei einem unserer Testfahrzeuge versteckte sich der SIM-Kartenslot laut Bedienungsanleitung im Kofferraum. Nach minutenlanger, vergeblicher Suche und anschließender Entfernung der Bodenplatte sowie einer weiteren Abdeckung war der Kollege bereits vollständig im Kofferraum verschwunden, ehe sich schließlich der winzige Slot für die Mini SIM-Karte fand.
2020 ist Internet bei Neufahrzeugen selbstverständlich. Nicht nur für den gesetzlich vorgeschriebenen Notrufdienst „eCall“, sondern ebenso für typische Navigationsanwendungen oder Musikstreaming-Dienste wird eine permanente Verbindung benötigt. Nutzern sollte es also nicht unnötig schwergemacht werden, Kleinigkeiten wie eine SIM-Karte zu installieren.
User-Experience-SIM-Karte-Bild
Lektion #3 – Auch beim Thema Internetzugang ist es wünschenswert, dem Nutzer die Wahl zu lassen – beispielsweise zwischen fest-verbauter SIM des Herstellers, eigener SIM-Karte oder einem USB-Dongle. Die sich dadurch ergebenden Szenarien müssen ebenfalls bedacht und entsprechend anwenderfreundlich gestaltet werden.
Vertrauen hat sich nicht ausgezahlt – Fahrzeug-App versagt
In einem Testsetting ermittelten wir die Laufzeiten von Signalen zwischen App und Fahrzeug und wieder zurück zur App. Nach einigen Versuchen war das Vertrauten in den untersuchten Dienst, welcher ein Öffnen und Schließen des Fahrzeugs per App ermöglicht, groß genug, sodass der echte Schlüssel dauerhaft im Auto verblieb. Genau dann jedoch versagte der Dienst, das Fahrzeug verweigerte jeden Befehl der App, und einer unserer Experten musste am Ende durch das glücklicherweise offene Schiebedach klettern, um das Fahrzeug von innen wieder zu öffnen.
Die Möglichkeiten, die ein an das Internet angebundenes Fahrzeug eröffnet, denkt man zum Beispiel an schlüsselloses Carsharing in der Familie, können das Leben erheblich erleichtern. Doch wie immer gilt: Die Dienste müssen zuverlässig funktionieren und für den Nutzer leicht verständlich sein.
Lektion #4 – Fahrzeug-Apps, die inzwischen jeder Hersteller bereitstellt, damit Nutzer unter anderem verschiedene Fahrzeugfunktionen auslösen können, sind eine feine Sache. Damit diese Funktionen verwendet werden und Spaß machen, bedarf es vor allem Zuverlässigkeit und einer guten Performance.
Kaffee & Tee öffnen den Kofferraum
In einem ausgesuchten Testfall zur Sprachsteuerung im Fahrzeug durchlebten unsere Probanden verschiedene Anwendungsfälle, um Kofferraum und Schiebedach zu öffnen. Nicht nur unsere Probanden, sondern auch wir waren verwundert, als die Aufforderung „Öffne den Kofferraum“ regelmäßig und ohne Fehlermeldung mit der Suche nach „Kaffee & Tee” im Navigationssystem quittiert wurde.
Zweifelsohne gewährt die Sprachsteuerung im Fahrzeug einfachen Zugriff auf Fahrzeugfunktionalitäten, wenn sie reibungslos funktioniert. Ein fehlerhaftes Ausführen von gewünschten Sprachbefehlen führt bei Fahrenden hingegen zu erhöhter Ablenkung und nicht zu der erhofften Entlastung.
Lektion #5 – Sprachsteuerung existiert heute an vielen Stellen im privaten sowie im geschäftlichen Umfeld. Im Fahrzeug liegt der Qualitätsanspruch dabei mindestens genauso hoch wie bei der Bedienung von Smartphones oder intelligenten Lautsprechern. Die Bedienung muss einfach und intuitiv funktionieren, damit die Aufmerksamkeit des Fahrenden auf die Straße gerichtet bleibt.
Die unüberwindbare Tür
Bevor der eigentliche Test begann, stiegen unsere Probanden jeweils in das Fahrzeug, um sich auf den Fahrersitz zu setzen. Bereits hier ergab sich jedoch ein Problem, als ein Proband nicht erkennen konnte, wie sich die Tür öffnen lässt. Es fehlte bei diesem neuen Fahrzeugmodell schlicht die Griffmulde – der eingelassene Griff wird auf eine neuartige Weise über Kippen betätigt. Erst nach expliziter Erklärung und einem deutlichen Aha-Effekt konnte die Tür endlich geöffnet werden.
Wenn Nutzer nicht sofort wissen, wie ein Produkt verwendet wird, haben sie oft ein anderes mentales Modell dazu gebildet. Um solche Bedienungsprobleme besser zu verstehen, ist es für Entwickler hilfreich, diese bestehenden Modelle zu kennen.
Lektion #6 – Menschen arbeiten mit mentalen Modellen, das heißt, sie erkennen Prozesse und Interaktionen nach gewohnten Mustern. Wird bewusst mit diesen bekannten oder erlernten Mustern gebrochen, beispielsweise aus Designgründen, müssen möglichst visuell und verbal zielgerichtete Hilfestellungen angeboten werden.
Fazit
Unsere Erlebnisse verdeutlichen immer wieder aufs Neue, welche bedeutenden Erkenntnisse Nutzerzentrierung bei der Konzeption und beim Testen von Lösungen liefert. Essenziell für die gesamte Arbeit ist dabei die initiale Analyse der angestrebten Zielgruppe: Welche Menschen werden später das Produkt benutzen? Was sind ihre Bedürfnisse? Was ist ihre Motivation? Was sind ihre Vorkenntnisse und welche Gedanken und Gefühle beschäftigen sie? Dieses Wissen über den Nutzer dient dazu, begründete Designentscheidungen zu treffen und die gewünschten Bedürfnisse erfüllen.
Nutzerwissen ist darüber hinaus für die Wahl der Probanden unserer zahlreichen Tests und Benchmarks erforderlich. Nur mit Menschen, die das Produkt später nutzen würden, können wir sinnvolle Ergebnisse generieren und am Ende unserem Ziel näherkommen, Produkte zu gestalten, die dem Nutzer ein besseres Erlebnis verschaffen.
P3 User Experience team:
Rico Ludwig
Kathrin Ganser
Daniel Glänzer
Audrey Matarage
Martin Dittmann
Stefanie Buchholz
Arne Bachmann
Nicole Rüde
Marcus Grimm