Die derzeitigen Nutzererfahrungen vieler Infotainmentnutzer im Fahrzeug sind von Schwachpunkten geprägt: Langsames Aufstartverhalten bzw. Systemperformance, veraltete Oberflächen oder Gesamtdesign und teilweise überhaupt keine Online-Funktionalitäten. Mangelnde Anpassbarkeit des Infotainments an die eigenen Gewohnheiten, welche meist von der Smartphone Benutzung geprägt wird, stellen Nutzer ebenfalls vor das Gefühl, dass innerhalb des Fahrzeugs wenig Innovationen Einzug halten, die dem Nutzer die Komplexität vereinfachen.
Gründe für diese mangelnde Anpassbarkeit sind meist die langen Vorlaufzeiten, mit der Autohersteller ihre Produkte vorausplanen müssen, gepaart mit den hohen Sicherheitsstandards für over-the-air Updates, die neue Inhalte oder Anpassungen im Fahrzeug ermöglichen würden. (Mehr zum Thema Sicherheitsanforderungen von Updates lesen Sie hier)
MIT DEM POLESTAR 2 SOLL DAMIT NUN SCHLUSS SEIN, SO ZUMINDEST PRESSESTIMMEN:
„Was Bedienung und Connectivity angeht, setzt der neue Polestar 2 (2020) klassen- und herstellerübergreifend sogar die Benchmark … [und lässt] … anderer Hersteller alt aussehen.“ ¹
“The Polestar 2 is more comfortable, seemingly better built and has a better infotainment system than the Tesla Model 3.” ²
“This for me is the best infotainment system in any car right now.” ³
Youtuber und Presse sind sich also einig: Das überdurchschnittlich performante System inkl. des Google Playstores wird bei Kunden besonders gut ankommen. Ein Navigationssystem mit Google Maps wird die Kunden sogar begeistern. Die Erwartungen, mit welchem wir als Connectivity-Experten der P3 an das Fahrzeug herantreten, sind also gesteckt. Diese Erwartungen bilden einen wichtigen Teil des Gesamtnutzungserlebnisses (oder User Experience), sie bilden eine Art Zielvorstellung, mit dem der zukünftige Nutzer sein Nutzungserlebnis vergleicht.
Wir als P3 hatten die Möglichkeit, das 4. Fahrzeug in Deutschland vom Händler zu übernehmen. Unsere hier beschriebenen Erkenntnisse beziehen sich auf die ersten vier Wochen Nutzungszeitraum. Wir fokussieren uns hier lediglich auf die Benutzung im Zusammenhang mit dem Infotainmentsystem, die Fahreigenschaften werden nicht betrachtet. Auch wenn man sich die Polestar 2 Einführungen in den Markt anschaut, stellt man schnell fest, dass hier das Infotainment im Mittelpunkt steht. Erstmalig ist ein Fahrzeug mit einem Betriebssystem von Google ausgestattet, welches wir auch in Zukunft unter dem Namen Android Automotive, bei anderen Herstellern erwarten dürfen
NUN ZU UNSEREM DIREKTEN INFOTAINMENT-ERLEBNIS:
Die ersten Momente im Polestar 2 beschreiben sich beruhigend unspektakulär: Klare Gestaltung in großer Kacheloptik mit schwarzem Hintergrund lassen das 11-Zoll Display minimalistisch wirken. Vier Hauptreiter gliedern das System mit Icons in die Bereiche „Kamera-Ansicht, Fahreigenschaften, Apps und Fahrerprofile“. Der Startbereich ist jederzeit mit einem Klick auf den angedeuteten Homebutton am unteren Rand erreichbar.
Was fällt uns besonders auf:
EINFACHER LINK DES GOOGLE-ACCOUNTS
Direkt zu Beginn des Flows zur Erstellung des Fahrerprofils besteht die Möglichkeit zur Kopplung des Google Accounts. Für alle iOS und Android werden unterschiedliche Kopplungsmethoden angeboten, wodurch die Vorteile des Google-Systems schnell vollständig nutzbar sind. Dies gefällt uns.
WENIG POLESTAR DESIGN IM INFOTAINMENT
In den Systemumgebungen des zentralen Displays (und des Fahrerdisplays) finden sich wenige Polestar-spezifische Abbildungen und Eigenschaften. Dies könnte den Umstieg auf andere Android Automotive Systeme zwar vereinfachen, bietet für Polestar aber derzeit wenig Möglichkeit zur Herstellung eines markenspezifischen „Look and Feels“. Die Stärkung der Kundenverbundenheit zur Marke kann somit im Infotainment nicht sichergestellt werden.
GOOGLE ASSISTANT PRÄZISE UND PERFORMANT
Sprachassistenten in Fahrzeugen neigen zu lustigen Befehlsausgaben und Missverständnissen in unseren gängigen UX-Tests (nachzulesen hier). Der Google Assistant jedoch überzeugt mit Sprachauswahlmöglichkeiten (inkl. Deutsch & Englisch; 6 Sprachen insg. verfügbar) einer schnellen Reaktion und natürlichem Sprachverständnis.
Hürden für den Sprachassistent sind derzeit noch die Ausführung von Querverweisen („Mir ist kalt“ sollte führen zu „Temperatur erhöhen“ und nicht zu „wir empfehlen Zwiebellook“) oder die Aufnahme verketteter Anweisungen („Spiele NDR 2 und mache das Radio lauter“). Der Sprachassistent ist ein Differenzierungsmerkmal und als integrierte Lösung die Referenz im Automobilbereich was Performance, Erkennung, und Feedback angeht. Im Funktionsumfang muss die Lernfähigkeit des Systems sich mit mehr Fahrzeugen im Markt erst noch beweisen.
GERINGE ANZAHL AN APPS
Ist der Google Automotive Playstore durch Kopplung eines Google-Accounts nutzbar, so erwarten Nutzer die Vielzahl von Apps, die sie aus dem Smartphone kennen. Hier herrscht aber zurzeit noch eine übersichtliche Auswahl von rund 20 Apps. Sie bedienen die Bereiche Musikstreaming, Podcast und Audiotheken. Wir haben uns hier eine größere Auswahl erhofft.
ZU VERSCHACHTELTE DATENSCHUTZEINSTELLUNGEN
Wer denkt der Minimalismus des Systems zieht sich auch durch Datenschutzeinstellungen, der irrt. Sowohl einzelne Apps, Google Assistant als auch Polestar haben in den Einstellungsmenüs einzelne Datenschutzeinstellungen, die gewohnt verklausuliert geschrieben sind. Ein richtiges Transparenzgefühl kommt hier nicht auf.
NAVIGATION MIT LADESTATIONEN UNGENÜGEND
Der wohl größte Kritikpunkt (derzeit) ist für uns die Navigation in Verbindung mit der Ladestationssuche über weitere Strecken. Hierbei fallen gleich mehrere Probleme ins Gewicht:
Zu aller erst ist die Suche der Ladestation ungefiltert und zeigt immer Ladestopps jeglicher Art.
Eine Anzeige von Tesla Superchargern (die bislang nur Tesla-Fahrzeuge laden) in den Suchvorschlägen wirft bei uns Fragen auf, die auf eine komplett fahrzeugunabhängige Integration der Google-Navigation schließen lassen.
Bei unseren Erprobungen über längere Strecken (100 – 150 km) mit kombinierter, defensiver Fahrweise weichten die prognostizierten Ladezustände am Zielort bis zu 8% ab. Hier fehlt es vermutlich noch an der Datengrundlage, welche eine präzisere Berechnung erlaubt.
Ein weiteres Defizit in der Navigation: Multi-Stop-Routing inkl. Ladestopps ist derzeit nicht möglich. Eine Berechnung einer Strecke wie beispielsweise Hannover bis München plant einen Ladestopp Höhe Kassel, in München wäre der Nutzer dann laut System mit 0% zu einer unbekannten Uhrzeit. Nutzer, die sich den Polestar 2 als langstreckentaugliches Fahrzeug angeschafft haben, werden sich hier demnach definitiv nach alternativen Routenplanungs-Apps oder Webseiten umsehen.
KEIN LADEENTERTAINMENT ODER BROWSER
Bei einem 11-Zoll Center-Display und etwas Zeit an der Schnellladesäule wünschen sich Nutzer mitunter auch die Möglichkeiten von Videostreaming, Online-Shopping oder Gaming herbei. Auch hier muss der Polestar 2 zurzeit passen: Alle derzeitigen Apps sind für die Fahrt konzipiert, und bieten somit keine Bildschirmunterhaltung, die den Fahrer ablenken könnte.
Damit bleibt dem Nutzer also nur die Möglichkeit, sich die Beine zu vertreten oder die Musikstreaming-Apps im Fahrzeug zu nutzen. Die Musikwiedergabe im Fahrzeug muss sich bei dem eingebauten Harman Kardon Soundsystem jedoch keinesfalls hinter Premium-OEMs verstecken.
TECHNISCHE PROBLEME (NOCH) NICHT OVER-THE-AIR BEHEBBAR
Die Überschrift verrät es – ja, wir hatten schon ernstzunehmende Probleme mit unserem Fahrzeug. Der Fall ereignete sich während einer Testfahrt mit laufender Navigation, während unser Polestar das GPS-Signal verlor und schlicht nie wiederfand. Auch ein kompletter Reset des Fahrzeugs durch uns half nicht, sodass wir das Fahrzeug letztlich zum Händler fahren mussten.
Ein Softwareupdate per Flashvorgang musste es schließlich richten und verhalf dem Navigationssystem wieder zu einem funktionierendem GPS. Auf unsere Frage, warum man das Update denn nicht over-the-air ins Auto hätte spielen können, wich der Händler entschuldigend aus.
SUPPORTFUNKTIONALITÄTEN NOCH NICHT ZUFRIEDENSTELLEND
Dieser Punkt ist hoffentlich für viele Polestar-Fahrende noch in ferner Zukunft, dann allerdings umso wichtiger: Ein verlässlicher und kompetenter Support bei dem OEM. In unserer Situation mit fehlerhaften GPS war es ein realer Fall und kein ausgedachter Testcase.
Also, wie im Handbuch beschrieben, bitte die im Dachhimmel befindliche Connect-Taste drücken und mit dem Volvo-Assist-Service verbinden lassen. Diese Kollegen waren mit diesem Softwareproblem und Fahrzeugtyp jedoch vollkommen überfordert und verwiesen auf Ihre Kompetenzen im Pannenhilfe- & Abschleppgeschäft. Ich solle bitte einfach zu meinem bekannten Händler fahren. Da haben wir uns einen Support etwas anders vorgestellt.
FAZIT
Bei aller Kritik, die wir als Autotester dem Fahrzeug hier beimessen, stellen wir inklusive des erwarteten Ausblicks in die Zukunft ein nicht allzu negatives Zeugnis aus: Die größten Kritikpunkte erweisen sich in den Punkten Navigation und Apps. Hier geben wir einem System mit großem Anteil an Google-Funktionalitäten einen gewissen „Vertrauensvorschuss“, dass diese Fehler schnellstmöglich nachbessert werden.Wenn größere Volumenmarken embedded Android Automotive Systeme implementieren, wird der Google Automotive Playstore auch für App-Anbieter interessanter werden. Damit stellt sich das Polestar 2 Infotainment System als Netzgut 4 im engeren Sinne dar. Diese Netzgüter erhöhen ihren Nutzen für die Kunden dadurch, dass mehr Kunden die Lösung nutzen und dadurch das Angebot steigt. Der Polestar 2 verhält sich somit ähnlich der Einführung einer Spielekonsole, für die es noch nahezu keine Spiele gibt.
QUELLEN
Katz, M. L., & Shapiro, C. (1985). Network externalities, competition, and compatibility. The American economic review, 75(3), 424-440.